...
Von überallher ergossen sich gewaltige Wasser: vom Himmel und aus der
Erde, sie brodelten und glucksten wie gärender, brauner Joghurt und
hatten schon beinahe den Gürtel der Berge erreicht. Eine Sintflut war
gekommen. Mensch und Tier, die Steppe und die Niederungen - alles
ertrank und verschwand. Man sagt, daß damals an der Oberfläche des
großen Wassers, daß sich zwischen den Bergen des Altai und
des
Changai erstreckte, riesige Wale geschwommen sein sollen, wie sie
Tausende Meilen weit entfernt in tiefen Ozeanen vorkommen. Und man
sagt, daß die Vögel keinen Ort mehr fanden, an dem sie sich
niederlassen konnten um auszuruhen. Vor Erschöpfung fielen sie ins
Wasser und ertranken. Die Welt war voller Wasser, und nichts anderes
mehr war zu sehen als die Wogen, die, Hengsten gleich, heranstürmten
und sich hoch aufbäumten, wild und kraftvoll. Dazwischen schauten nur
noch die Gipfel von Altai und Changai hervor.
Nur eine Wölfin, so
wird erzählt, hatte am Rande des großen Wassers überlebt. Sie war schon
viele Tage lang ohne Schlaf und ohne Rast vor dem Wasser geflohen. Als
sie schließlich im Stehen einschlief, kaum so lange, daß ihr Atem sich
beruhigte - denn sie war am Ende ihrer Kraft - träumte ihr, sie wäre in
der weiten Steppe in ein Rudel Antilopen eingefallen, hätte einen
fetten Bock gerissen und fräße nun das weiche, vom heißen Blut
triefende Fleisch. Da erwachte sie und merkte, daß das große Wasser
noch näher gekrochen war und ihr schon bis an den Bauch reichte. Und so
kämpfte sie sich weiter bergan. Sie wußte nicht, was noch geschehen
würde, wovon sie leben sollte und ob dieses riesige Wassermeer je
wieder zurückgehen würde. Nur eines wußte sie: Der einzige und letzte
Ort, der ihr Sicherheit bot, war der Eisgipfel des großen Altai.
Wenn
ihre Kräfte versiegten, was sollte dann aus dem kleinen Menschenkind
werden? Dem Kind, das sie auf dem Nacken trug, sein Leibchen aus
Antilopenfell fest zwischen den Zähnen? Warum diese Wölfin ihre eigene
Brut verlassen hatte, um mit einem Menschenknaben in den Fängen den
schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlangzuhetzen, das weiß niemand.
Das Kind weinte. Die Wolfsmutter verschnaufte einen Augenblick und bot
ihm ihre Zitzen, die vor kurzem noch sechs Welpen genährt hatten. Als
der Knabe satt war, fühlte auch sie Erleichterung in ihren vom
Milchdrang schmerzenden Zitzen.
Doch da hatte das große Wasser sie
schon wieder eingeholt. Riesige Gischtberge rollten ihr entgegen, hoch
aufspritzend bis zum Himmel, um sie zu packen und zu verschlingen.
Wieder sprang die Graue Wolfsmutter vorwärts, in großen Sätzen, wieder
klammerte sich das winzige Menschenkind an sie, und so retteten sie
sich mit Müh und Not auf den Gipfel des Altai.
Doch das Wasser
stieg weiter. Zum Schluß war der Gipfel des Altai nur noch eine kleine
Insel in einem weiten Ozean. Nun gab es keinen Ort mehr, an den die
Wolfsmutter flüchten konnte. Wohin sie auch sah - nur wogendes Wasser.
Um in ihre Heimat zu gelangen, wo sie glücklich und unbeschwert gelebt
hatte, hätte sie hinabtauchen müssen in das große Meer. Auf seinem
Grund befand sich ihre Höhle. Auch die Wohnstätte des Knaben war dort.
Schon
spülte die Flut über den Gipfel des Altai. Die Graue Wolfsmutter nahm
das Kind zwischen ihre Fänge. Das Wasser umspühlte schon ihre Knie. Sie
setzte das Kind auf ihren Kopf. Dann hub sie an zu einem letzten
langen, klagenden Geheul.
Heulend rief sie den Gott Churmast
droben im Himmel, heulend rief sie die Mutter Erde und ihre Götter, die
Lus, flehte sie an, ihr Leben zu retten. "Soll so der Nabelstrang der
Menschheit reißen?" heulte sie. "Soll so das Geschlecht der Grauen
Wölfe untergehen? Wer soll Euch dann, ihr Götter, das Herz erfreuen?
Wer soll dann auf Eurem Schoße spielen? Was wollt ihr mit einer
finstren Welt, ohne heißes Leben, ohne warmes Blut? Was wollt ihr mit
kaltem Eis?" So rief und heulte die Wölfin immer und immer wieder, sagt
man.
Und man sagt, daß der Himmelsgott Churmast, als er diese
Worte vernahm, seine Wolken verjagte, und die Erde und die Lus ihre
Wasserfluten zurückzogen. Doch man sagt auch, daß das große Wasser,
noch ehe es wieder den Gürtel des Altai erreichte, zu Eis gefror. Auf
dem Berg in seiner Hülle von Eis, so sagt man, blieben die beiden
zurück, die Graue Wolfsmutter und der Knabe...
...Inmitten dieser
Eiswüste nährte die Graue Wolfsmutter den Knaben mit ihrer weißen
Milch, während sie selber Gras fraß. Dann nahm sie das Kind wieder auf
den Rücken und begab sich auf die Suche nach Menschen. Niemand weiß,
wie viele Jahre die Graue Wolfsmutter umhergezog, von einem Gipfel zum
anderen, und in welche Gegenden der Welt der Weg sie führte. Es heißt,
daß sie ihre festen, scharfen Pfoten abwetzte, so daß nur noch die
Krallen übrigblieben. Doch wie dem auch sei, am Ende fand sie einen
Menschen. Nun war der Knabe nicht mehr allein, doch die Wölfin konnte
vor Erschöpfung keinen Schritt mehr tun. Der Knabe pflegte seine
Wolfsmutter, damit sie wieder zu Kräften käme, doch alles war umsonst.
"Graue
Wolfsmutter, wie kann ich Euch retten?" fragte der Knabe. "Such mir nur
ein kleines bißchen Fleisch, dann sterbe ich nicht. Noch meine Kinder
und Kindeskinder werden deine Tür bewachen, sie werden ihren Kopf in
deinen Schoß legen und als liebe Brüder bei dir bleiben", antwortete
sie.
Der Knabe fütterte sie mit dem Fleisch der toten Fische, die
die Sintflut zurückgelassen hatte. Doch die Wölfin konnte nicht
genesen. "Ich glaube", sprach sie, "wenn ich nur ein einzigesmal den
Geschmack von heißem Blut auf meiner Zunge spüren würde, dann könnte
ich gewiß wieder aufstehen." Da schnitt sich der Knabe ein wenig
Fleisch aus seinem Gesäß und gab es ihr.
Als die Wolfsmutter das
Fleisch gekostet hatte, lebte sie auf. "Wohlan," sagte sie, "nun werde
ich nicht sterben. Du und ich, wir haben nicht nur einander gerettet,
sondern auch unsere Nachkommenschaft und unsere Art. Es wird das Los
deiner und meiner Nachkommen sein, sich von Fleisch zu ernähren. Und
solange es euch Menschen gibt, werden auch wir Wölfe da sein. Daß ich
dich gerettet habe, hat einen tiefen Sinn: Ich tat es, um auch mein
Geschlecht vor dem Untergang zu bewahren. Als wir beide auf dem Gipfel
des Altai dem Ertrinken nahe waren, haben Churmast und die Lus mein
Rufen erhört und ihre Wasser zurückgezogen. Das taten sie gewiß nicht
ohne Grund. Bestimmt haben sie Tiere am Leben gelassen, die uns zur
Nahrung dienen sollen. Such diese und bring sie her!" sagte sie. Der
Knabe brach auf und fand fünf Arten von Herdenvieh. Damit brachte er
seine Graue Wolfsmutter wieder zu Kräften. Fortan hüteten am Tage die
Menschen und nachts der Wolf die Viehherden. Die Herden wurden ihre
Nahrung, und sei teilten sie miteineinder. Seitdem ist es üblich, daß
Menschen und Wölfe in der ersten Zeit ihres Lebens Milch trinken,
später aber ernähren sie sich von Fleisch.
Irgendwann,
als die Flut versiegt und der Same derer, die überlebt hatten, wieder
zahlreich geworden war, verfielen einige aus der Nachkommenschaft der
Grauen Wölfin dem Gelüst auf Menschenfleisch und fielen über die
Leichname der verstorbenen Vorfahren her. Die Menschen schossen mit
Pfeilen auf sie und jagten sie fort. Die von den Leichnamen gefressen
hatten, wurden zu den Wölfen, die wir heute keennen. Die es nicht
gewagt hatten, wurden zu Hunden. Wir Mongolen aber sind die Nachkommen
jenes Knaben. Unsere Kinder haben, wenn sie geboren werden, einen
blauen Fleck auf dem Steiß. Man nennt ihn den "Mongolenfleck". Er kommt
daher, daß unser Ahn mit der Milch der Grauen Wolfsmutter aufgezogen
wurde. Das Herdenvieh hat der Mensch in Besitz genommen, der Hund
verteidigt es und der Wolf stielt es, und so essen wir alle aus
demselben Topf. Seht ihr, wir sind alle miteinander Fleischfresser...
Übersetzung und Bearbeitung Renate Bauwe, Januar 1995 / September 2000.
Nach: D. Norow, Serewger chadny dsergelee. UDsU.
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