Mongolische Literatur

Dazu kommt eine ungeheure Anzahl von Dämonen, die ihrem Wesen nach ebenfalls Totengeister sind, also umherspukende Seelen verstorbener Menschen, die weder zu Himmelsbewohnern noch zu Herrengeistern werden konnten.

Die untere Welt: Die Vorstellungen von der unteren Welt sind recht diffus und im
Laufe der Zeit so stark durch fremde Einflüsse überlagert worden, dass es heute schwerfällt, die autochthonen Elemente herauszukristallisieren. Möglicherweise stellte man sich die Untere Welt einmal als eine Umkehrung der oberen Welt vor, als ein Land, in dem die Flüsse bergauf fließen und die Bäume von oben nach unten wachsen. Bildhafte Darstellungen dieser Art findet man hin und wieder auf alten Schamanentrommeln.(30)
Aus einigen Schamanenlegenden spricht die Vorstellung, dass in der Unteren Welt, in der Nähe der Wurzeln oder des Stammes des Weltenbaumes die Urmutter der Schamanen wohne. Auch die bösen Geister, von denen man annahm, dass sie Krankheiten und sonstiges Übel über Menschen und Tiere brachten, waren irgendwo dort unten angesiedelt. Darauf spielt möglicherweise das mongolisches Sprichwort "Gaj gazryn doroos“ an – "Das Unheil kommt aus der Erde."
Jüngeren Vorstellungen zufolge ist die Untere Welt das Herrschaftsgebiet des Erleg Chan (erlig qan), des Gottes, der über die Seelen der Toten herrscht und ihnen die verdiente Strafe für ihren sündigen Lebenswandel auferlegt. Unterstützt wird er durch eine große Anzahl von Gehilfen, die entweder ebenfalls als erleg oder als eltsch (Bote) bezeichnet werden. Einer südmongolischen Schamanenhymne zufolge leben diese "Boten" in der 9. Schicht der Erde, in unmittelbarer Nachbarschaft mit den lus, den Herren der Gewässer, die in der 8. Schicht wohnen.
Wie weit die ursprüngliche, d.h. die vom Buddhismus noch nicht beeinflusste Konzeption der unteren Welt die Vorstellung von einem Totenreich mit einschließt, lässt sich heute nur noch schwer rekonstruieren. Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass den Mongolen vor ihrer Bekanntschaft mit dem Buddhismus die Gedanken an eine Hölle und einen Höllenfürsten, der die Menschen für ihre Sünden bestraft, fremd war.
Vorstellungen von einem Totenreich gab es nachweislich bei manchen ostsibirischen Völkern. Sie vermuteten das Totenreich irgendwo im Norden, in einer dunklen Gegend. Die Seelen der Verstorbenen, so glaubte man, fahren flussabwärts nach Norden. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass alle großen sibirischen Flüsse nach Norden
fließen.
Es gab die Vorstellung, dass die Flüsse dort durch ein großes Loch in die Unterwelt und von dort aus wieder zu ihrer Quelle fließen. In einer Schamanenerzählung der Nanai fährt der Schamane Hodai den Amur entlang, wenn er die Seelen der Toten ins Jenseits begleitet. Auch bei den Mongolen scheint die Annahme verbreitet gewesen zu sein, dass der Eingang zur Unteren Welt irgendwo im Norden liegt. Das ist wichtig zu wissen, um die alten Heldenepen, in denen der Recke hin und wieder eine "Reise nach Norden" antritt, richtig interpretieren zu können.
Im übrigen gibt es keine klaren Grenzen zwischen der Mittleren und der Unteren Welt, bzw. zwischen den unteren Schichten der einen und den höher gelegenen Schichten der anderen. Als Verbindung zur Unteren Welt galten auch stehende Gewässer, Seen und Sümpfe. Die Mandarinente, ein Tauchvogel, der in der Mongolei häufig vorkommt und auch in manchen Schöpfungsmythen eine Rolle spielt, gilt als Teufels- oder Schamanenvogel. Er ist die Verkörperung des Bösen und frisst, der Sage nach, sogar seine eigenen Jungen. Dieser arme Tauchvogel ist den Mongolen deshalb so

(30) vgl. Schamanengeschichten ... a.a.O. 304.

 Schamanismus bei den Mongolen 12 Schamanismus bei den Mongolen

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