Wenn
über Immersion und/in Kunst geschrieben wird, wird dies oft im
Zusammenhang mit der virtuellen Realität und der Erfahrung mit
digitaler Kunst verstanden. Der mongolische Maler OtGO
(geb. 1981) zeigt mit seinen Gemälden jedoch einen anderen Ansatz.
Seine vielschichtigen, farbenprächtigen und üppig verdichteten
Kompositionen bestechen durch ihre absichtsvolle Komplexität:
Visualität konstituiert hier, wie die Kunsthistorikerin Whitney Davis
es ausgedrückt hätte, „ein Bild der Welt als Weltsehen“.1
(Abb. 1) Taifun by OTGO 2021-2022, acryl on canvas 200 x
150 cm | Photo
by Chloé Alyshea |
«HUNNEN» – solo OtGO exhibition cova
art gallery, Eindhoven NETHERLANDS 2022
Der
erste Eindruck von OtGOs Arbeit ist die schiere Grandiosität der
Bilder, mit oder ohne ihre Dimensionen. Seine Werke überwältigen den
Betrachter mit ihrer Intensität an üppiger Figuration und fordern
unterschiedliche Betrachtungsebenen heraus, angefangen von
Panorama-Schnappschüssen aus der Ferne bis hin zur nahen und privaten
Betrachtung zahlreicher Details. Im Taifun
(Abb. 1) sieht man auf den ersten Blick eine Komposition aus ineinander
verschlungenen Figuren, die zu einem visuellen Wirbel aus
Pferdebewegungen konfiguriert sind.2
Die Dynamik der unendlichen Bewegung und die Farbanordnung treiben den
Betrachter sofort in eine engere Auseinandersetzung mit dem Bild : Von
einem panoramaartigen Eintauchen geht man zu einer privaten Erkundung
über, die sich auf zahlreiche kleine Pferde konzentriert. Für einen
gebildeten Betrachter, der mit mongolischen Motiven vertraut ist,
basieren diese stilisierten Pferde auf Bildern mongolischer
Petroglyphen und Felsmalereien, die das kulturelle Erbe des Künstlers
sind. Das Gemälde erzeugt einen fesselnden optischen Effekt, der das
Seherlebnis mühelos von einer Ebene des Eintauchens in eine andere
versetzt, in einem permanenten hin und her, ohne großen Zwang, und der
den Betrachter mühelos fesselt.
(Abb. 2) Triptych:
The Last Supper by OtGO | Inside the Studio: Work
in Progress | Photo by Anna Wyszomierska
Als
Künstler, der in der Mongolei geboren wurde, verwendet OtGO in seiner
Kunst häufig Darstellungen von Pferden, ein verbreitetes Motiv bei
vielen mongolischen Künstlern.3
Obwohl er in der Mongolei ausgebildet wurde, hat er sich über die
Tradition hinweggesetzt und beschäftigt sich vielmehr mit globalen
Fragen der Urbanisierung, mit kulturellem Verfall, Neoliberalismus und
der anhaltenden Pandemie. Sein Triptychon, das nach einem bekannten
biblischen Thema, dem Letzten Abendmahl (Abb. 2), betitelt ist, ist
eine schockierende Darstellung aller möglichen und nicht einer
bestimmten Kultur. Durch die Darstellung einer monströsen Gestalt eines
alles beherrschenden Oktopus – einer Kreatur, die in der Heimat des
Künstlers, der Mongolei, überhaupt nicht vorkommt – bietet das Werk auf
den ersten Blick ein merkwürdiges Rätsel. Der bedrohliche Oktopus
dominiert alle drei Kompositionen, doch bei näherer Betrachtung erkennt
man, dass das Seeungeheuer aus unzähligen winzigen Affenfiguren
besteht, die in einer langen Reihe an einem langen Tisch
zusammensitzen, auf dem Teller, Gläser sowie menschliche Schädeln
liegen. Sie halten die Schädel in ihren Händen und sind von nackten
menschlichen Körpern und zahlreichen grauen menschlichen Gestalten
umgeben, deren gespenstische Erscheinung zweifellos auf die Anwesenheit
des Todes hinweist. Weitere Anzeichen für Tod und Tragödie sind Berge
von menschlichen Schädeln, an denen die Affen im Beisein der
gespenstischen Körper aktiv dabei sind, weitere Berge menschlichen
Todes anzuhäufen und zu errichten. Der gigantische Kopf des Oktopus
besteht aus SARS-CoV-2-Virusbildern, die die COVID-19-Pandemie
verursacht haben und die nun alle drei Kompositionen durchdringen (Abb.
3). Die Visualität dieser Gemälde vermittelt uns ein Bild der Welt und
der Weltaneignung4, eine von der Pandemie heimgesuchte Tragödie, in der
keine Kulturen unterschieden werden und in der die biblische Linie als
Ergänzung zur Weltanschauung verwendet wird, die sich mit dem Tod
befasst. Die gigantische Größe dieses bis zu vier Meter langen
Triptychons ist ein visueller Schrei nach den Folgen menschlichen
Handelns, die seit seinem Ausbruch im Dezember 2019 weltweit zu einer
enormen Zahl an Todesopfern im Zusammenhang mit dem Coronavirus geführt
haben.
(Abb. 3) Triptych:
The Last Supper
–2/3 by OtGO 2020–2022, acryl on canvas 215 x 400 cm
(Abb. 4) Slavery-1
| Triptych:
The Galleys of Souls –2/3 by OtGO 2013–2021, acryl
on canvas 215 x 400 cm
Tatsächlich
bestehen die Gemälde von OtGO oft aus mehreren Kompositionen, die
zusammen ein großes Ganzes bilden. Ein weiteres Beispiel für diesen
Ansatz ist die Sklaverei (Abb. 4-5), wo mehrere große Leinwände diesem
Thema in Verbindung mit Fragen der Gerechtigkeit gewidmet sind, wobei
die Gruppe durch eine Reihe von Kunstwerken ergänzt wird, die in einer
fortlaufenden Reihe angeordnet sind.
Dies
ist eine kraftvolle Installation, die darauf abzielt, eine Erzählung
des Themas und eine Hommage an das in der Vergangenheit Unterdrückte zu
schaffen und in die turbulente Gegenwart zu projizieren. Ein
Panoramablick auf die Installation zeigt eine Ansammlung von Gemälden,
die in einer düsteren, dunkelroten Farbe dominieren und mit zahlreichen
winzigen Bildmotiven gefüllt sind, darunter nackte menschliche Körper,
Handabdrücke des Künstlers, unzählige Bisons, Berge von Büffelschädeln
und Porträts von Native Americans (Abb. 6), die alle durch reale
Ereignissen aus dem 19. Jahrhundert inspiriert wurden. OtGOs eigene
Perspektive auf die Geschichte wird in einem großen Längsformat
zusammengefasst: Die aus Afrika mitgebrachten Sklaven werden vom
Künstler bei amerikanischen Indianern, die Bisons jagen, versammelt,
und zwar genau an dem Ort, wo die Bisons von den neuen westlichen
Siedlern ausgerottet wurden, um die indigene Bevölkerung zu
kontrollieren. So die Siedler die Freiheit all dieser unterschiedlichen
Gemeinschaften in ihrem Lebensraum beschneiden und sie ausnutzen. Die
gesamte Komposition erfüllt fast den gesamten Raum mit diesen düsteren
Gemälden, mit denen der Betrachter in gewisser Weise in den tragischen
Geist der vergangenen Ära eintaucht, deren Nachwirkungen sich bis in
unsere Gegenwart entfalten. Es gibt kein einfaches Entkommen aus diesem
Raum: Der Betrachter ist gezielt von der Arbeit, die an allen vier
Wänden des Raumes installiert ist, umgeben, um das Gefühl, von ihr
absorbiert und überwältigt zu werden, dramatisch zu verstärken.5
(Abb. 6) Slavery-2, detail of a Native American
| Slavery
Narratives: The Atlantic slave trade & The Native Americans
by OtGO 2013–2023, acryl on canvas 215 x 1000 cm
---------------- Quellen: 1)
Whitney Davis, “Visuality and Pictoriality” in RES: Anthropology and
Aesthetics, Autumn, 2004, No. 46, Polemical Objects (Autumn, 2004), pp.
9-31, esp. p. 10. 2) Es gibt mehrere interessante
Arbeiten mit dem Motiv winziger Pferdefiguren. Eine frühere Version
desselben Themas finden Sie beispielsweise hier: www.otgo.info/Werke/Dalai.html
3) Weitere Beispiele finden Sie in neueren Arbeiten wie Andermatt (2022), siehe hier: www.otgo.info/Werke/Andermatt.html 4) Davis, 9 5) Caro Verbeek
diskutiert ein ähnliches Gefühl der verschlungenen Erfahrung eines
Betrachters im Rahmen einer Installation von Henri Matisses aus Papier
geschnittenen Tafeln, die an zwei Wänden des Raums angebracht sind.
Siehe Verbeek, „Matisse's Installation of „La perruche et la sirène“ as
an Environment: An „Immersive“ Experience“, Master Drawings, Sommer
2012, Bd. 50, Nr. 2, „Modern & Contemporary Drawings“ (Sommer
2012), S. 187–192. 6) Weitere Informationen zu den
Auswirkungen von Jagd und Umweltkrisen auf Pinguine finden Sie in Mike
Bingham, Threats to Penguins, hier veröffentlicht: www.penguins.cl/penguins-peril.htm 7) Ebenda. Laut Bingham wurden Pinguine auch als Treibstoff verwendet und zu Lebzeiten in brennendes Feuer geworfen. 8) Joseph Nechvatal, „Auf dem Weg zu einer immersiven Intelligenz“ in Leonardo Bd. 34, 2001, S. 417–422. 9) Hier bezieht sich Nechvatal auf Kendall Waltons Scheintheorie. Nechvatal, 418. 10) Ebenda. 11) Ebenda. 12) Davis, 10.
Ein
ähnlicher Ansatz lässt sich in der großen Gemäldeserie „Antarktisches
Panorama“ (Abb. 7) erkennen, welches aus zwölf einzeln gezeichneten
Kompositionen besteht. Bewegt durch seine Erkenntnisse über die
Geschichte der Pinguine, die bedroht sind und fast ausgerottet wurden,
die im 19. Jahrhundert wegen ihres Fetts zur Herstellung von Kerzen
gejagt wurden und die heute als Nahrungsmittel und Fischköder dienen,
beschloss OtGO, den ausgebeuteten Kreaturen eine weitere „Hommage“ zu
erweisen, wie er es selbst ausdrückte.
(Abb. 7)
Antarctic Panorama by OTGO 2015-2016, acryl on
canvas, 300 x 900 cm.
The 300 by 900 cm tall panorama painting consists of 12 equal-sized
single paintings, each measuring 150 by 150 cm Prof. Dr. Uranchimeg Orna Tsultem. OtGO Studio
Berlin. Photo by OtGO 2022
In
einer panoramaartigen Fernansicht offenbart die mehrteilige
Installation Kompositionen aus kalten, hellen Farbtönen, zeigt Ströme
zusammengedrängter Pinguine, die sich in ihren großen Kolonien
zusammenschließen. Bekannt dafür, dass es sich um gesellige Vögel
handelt, die in Kolonien brüten, sind sie flugunfähig und tolerant
gegenüber der Anwesenheit von Menschen. All dies wird weiterhin gegen
sie eingesetzt, um sie in großer Zahl zu jagen.7
Aus der Ferne kann man die in vielfältigen Haltungen zusammengedrängten
Pinguine als eine monumentale Installation aus schwarzen und weißen
Linien betrachten, während die Nahaufnahme atemberaubende Details der
individuellen, dichtgedrängten Vögel offenbart, die teilweise mit einer
Vielzahl winziger Flecken gekennzeichnet sind und zusätzlich mit dünnen
vertikalen Linien aus weißer Farbe überlagert werden. Ihre Augen sind
durch leuchtende gelbliche Glanzlichter hervorgehoben – alarmierend und
besorgniserregend für den Betrachter –, während ihre unzähligen Körper
durch eine endlose Wiederholung schwarzer Linien scheinbar endlos
vibrieren (Abb. 8). Ohne jegliche Abhängigkeit von digitalen
Hilfsmitteln erzeugt der Künstler dennoch ein Gefühl der Virtualität
durch das, was der Künstler Joseph Nechvatal als „optisch“ oder „eine
ästhetische optische Wahrnehmung“ bezeichnet, mit dem er das
einfühlsame Eintauchen in das Erlebnis dieser vibrierenden Visualität
meint.8
Hier und insbesondere in seiner Installation „Slavery“ hat der
Künstler, in Nechvatals Worten, ein ästhetisches, immersives Gehäuse
geschaffen – ästhetisch und informativ intensiv –, das „zur
ontologischen Selbstmodifikation durch die Teilnahme des Immersanten am
kreativen Prozess einlädt.“9
Die Erfahrung hier ist nicht wie in VR-Räumen, und doch ist das „Ein-
und Aus“-Spiel des Immersiven wohl immer noch in vollem Gange, mit dem
ultimativen Ergebnis einer fokussierten Aufmerksamkeit auf das „innere,
sich entwickelnde, selbstprogrammierbare Selbstsein“.10
Diese Arbeiten lassen uns mit Hilfe der optischen Wahrnehmung durch
Schichten von Bildkonfigurationen hindurch navigieren, und durch die
ständigen Veränderungen im Sehen, durch visuelle Vibrationen,
hervorgerufen durch unzählige virtuelle Formen, die die Augen von
winzigen zu monumentalen Proportionen bewegen, wird der Betrachter
beharrlich in der „Entwicklung immer vollkommenerer Augen innerhalb
eines Kosmos“ gehalten, in dem immer etwas mehr zu sehen ist.“11 OtGO
bewegt sich bewusst über kulturelle Grenzen hinaus und hin zu globalen
Gesprächen, die erhellend und für jedes Publikum relevant sind. Er
ermöglicht eine engagierte Zuschauerschaft und die Freude an den
wechselnden Perspektiven, die sich durch die Installationen bewegen,
ganz so, als wären sie in einer realen Welt. Die Visualität in seinen
Werken lädt zu einer durchdringenden Betrachtung ein, die den Kreislauf
der Wahrnehmung von „Form zu Symbol und vom Bild zum „Diskurs“, vom
Sinnlichen zum Verständlichen und wieder zum Beginn“ auslöst.“12
Durch das ästhetische Eintauchen in die Kunst von OtGO kann das
Publikum den Bildraum nie als Alternative, sondern als akute Realität
erleben, in der der Betrachter jederzeit eine Stimme haben kann.
(Abb. 8)
detail of Antarctic Panorama by OTGO 2015-2016, acryl on
canvas, 300 x 900 cm.
The 300 by 900 cm tall panorama painting consists of 12 equal-sized
single paintings, each measuring 150 by 150 cm