Dennoch wenn wir
uns dem Bild nähern und unsere kleinen grauen Zellen verbinden, wie
ein gewisser Hercule Poirot sagen würde, fällt die Maske und die
Realität wird enthüllt. Dann beginnt sich das Puzzle
zusammenzusetzen, ein Puzzle, das viel düsterer und viel weniger
fröhlich ist. Die Musik ändert ihre Tonlage und etwas zerbricht
langsam in unserem Herzen, wie eine Glasscherbe. Es ist unmöglich, es
wieder zusammenzusetzen. Wir verstehen, dass wir uns nicht an
Äußerlichkeiten aufhalten dürfen, sondern tiefer in diese Gemälde
eintauchen müssen, um die Wahrheit zu entdecken. Die Details sprudeln
aus den Gemälden heraus und zwingen uns zu einer langen Betrachtung,
um die Antworten auf unsere Fragen zu finden. Die Klänge der Trommeln
und des Klaviers werden schnell durch den Lärm der Flammen abgelöst.
Das Lachen und der Applaus durch Stöhnen, Weinen und Flehen. Die
Szenerie ändert sich völlig: Wir sind nicht mehr Zeuge einer Party
oder eines farbenfrohen Karnevals. Nach einigen Minuten der
Kontemplation haben wir uns vom Himmel in die Hölle begeben. Die
Atmosphäre wird erstickend und aus Panik kämpfen unsere Augen
unermüdlich darum, etwas Positives, Fröhliches und Glückliches zu
finden. Die blutroten Augen des Oktopusses unterbrechen diesen Versuch
abrupt, der höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt ist. Diese
Kreatur breitet sich aus und nimmt in allen drei Gemälden einen
zentralen Platz ein. In The Last Supper 3 ähnelt die Kreatur einem
blutrünstigen Monster oder einem Terminator, leblos und gnadenlos, der
nur ein Ziel hat: zermalmen und töten. Daher beunruhigt ihn das Weinen
und Wehklagen der Menschen in keiner Weise und seine mächtigen
Tentakel sind bereit, seine Beute zu packen. So wird der Oktopus zum
idealen Symbol, um den Virus und seine Folgen, die über uns
hereingebrochen sind, bildlich darzustellen.
Für manche verkörpert der Krake die Geister der Hölle oder sogar die
Hölle selbst. Wie der Virus ist auch der Oktopus unter allen Umständen
lautlos. Er ist das Beispiel schlechthin für Anpassung und seine
Fähigkeit, unbemerkt zu bleiben, ist außergewöhnlich. Diese
blitzschnelle Anpassung an seine Umgebung erfolgt oft durch Mimikry und
Verwandlung. Wie ein Zauberer wechselt der Oktopus je nach Laune oder
Bedarf seine Farbe, indem er mit der Umgebung verschmilzt, oder geht
noch einen Schritt weiter, indem er seine Form verändert. Da sein
Körper kein Skelett hat, ist er zudem äußerst flexibel. Aus der Sicht
eines Menschen sind diese Fähigkeiten beeindruckend und erschreckend
zugleich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass genau diese Kreatur
ausgewählt wurde, um sowohl den monströsen Kraken, die konkrete Form
des absoluten Bösen, das sich auf dem Meeresboden verbirgt, als auch
das Virus in OtGOs Gemälden zu verkörpern. Unsichtbar und
hochansteckend, hat es den gesamten Planeten in Chaos, Isolation und
Trauer gestürzt. Wie der Oktopus hat sich auch das Virus angepasst und
Varianten hervorgebracht, die sogar bis heute weiter auftreten. Es hat
keinen Geruch, keine Farbe und vor allem kein Gesicht. Und was man
nicht sehen kann, wird seit jeher gefürchtet. Das Unbekannte, egal ob
positiv oder negativ, ist furchterregend. Wir haben keine Waffen, keine
Gebrauchsanweisung, die uns helfen könnte. Wir müssen unsere
Komfortzone verlassen, neu lernen zu leben und manchmal sogar zu
überleben, indem wir uns an unsere neue Umwelt anpassen.
detailansicht: The Last Supper
Um die Symbolik der
Krankheit zu verstärken, ist der Kopf des Kopffüßlers mit menschlichen
Schädeln und Viruspartikeln gefüllt. Letztere entweichen, riesig oder
in feinem Regen, bis sie die gesamte Leinwand überschwemmen.
Schließlich sind diese kleinen Flecken, die aus der Ferne wie bunte
Lichter oder fröhliche Konfettis aussahen, in Wirklichkeit die
Vertreter dieses stillen Todes. Aus der Ferne betrachtet wird der Kopf
des Kraken selbst zu einem riesigen menschlichen Schädel. Letztendlich
ist dieses Element nicht so erstaunlich, da es der Mensch war, der
dieses Chaos geschaffen hat oder zumindest aktiv daran beteiligt war.
detailansicht: The Last Supper
Menschliche Schädel sind überall zu
finden. Sie liegen auf dem Boden, in Haufen oder verstreut, wie
traurige Vertreter eines menschlichen Lebens, dem die Luft ausgeht.
Gezwungen in der Dunkelheit umherzuirren, die Überlebenden verstehen
nur allzu gut, welches Schicksal ihnen bevorsteht. Die zusammengelegten
Schädel erinnern uns an die alten Zeiten, in denen die von einer Pest-
oder Choleraepidemie infizierten Körper gestapelt und dann verbrannt
oder schnell begraben wurden, um die noch lebenden Menschen zu
schützen. Während wir unsere sorgfältige Beobachtungsarbeit fortsetzen,
offenbaren die Gemälde unseren Augen die Anwesenheit menschlicher
Seelen. Gezwungen, ihren Körper und ihre irdische Existenz zu
verlassen, blicken sie traurig auf ihre Überreste, bevor sie langsam
ins Nichts verlaufen.
detailansicht: The Last Supper
Die Epidemie hat sie ohne Vorwarnung
aus dem Leben gerissen, wie ein Blitz, der mitten in einen klaren,
friedlichen Tag einschlägt. Sie haben kein Gesicht, keinen Körper und
keinen Namen mehr. Wie einst Ernest Hemingway so treffend formulierte,
"müssen wir uns daran gewöhnen: An den wichtigsten Wegkreuzungen
unseres Lebens gibt es keine Wegweiser". Nur ihre Silhouette, die fast
durchsichtig ist, bleibt noch eine Weile bestehen. Mann oder Frau, man
kann es nicht sagen. Im Angesicht des Nichts bleibt nichts von all dem
übrig.
Den
wenigen Menschen, die noch am Leben sind, geht es nicht besser. Einige
versuchen trotz alledem zu fliehen und ihren Körper mit den Händen zu
schützen. Eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm kämpft ums Überleben.
Andere Frauen, die schwanger zu sein scheinen, versuchen, das Leben zu
retten, das in ihnen heranwächst. Trotz des Unbehagens, das sich breit
macht, und trotz der Klagen der Gefolterten, können wir sie leider
nicht retten. Lediglich unser Blick kann sie streifen. Die
orangefarbenen Pinselstriche auf dem schwarzen Hintergrund der Gemälde
verweisen uns auf die Flammen und die extreme Hitze. Sehr schnell
stellt sich in uns das Gefühl ein, in einem Ofen oder einem Kamin zu
stehen. Es ist kein Ausweg in Sicht, kein geringster Fluchtweg.
detailansicht: The Last Supper
Dennoch scheinen einige der
Menschen auf den Gemälden weniger zu leiden als die anderen. Viel
größer und beleibter, fast auf übernatürliche Weise, scheinen sie sich
kaum darum zu kümmern, was um sie herum geschieht. Am Sitzen, Liegen
oder fast schwebend, drückt ihr Blick völlige Gleichgültigkeit, ja
sogar Verachtung für das Schicksal ihrer Genossen aus, welche schreien,
zappeln und schließlich sterben. Ihre pausbäckigen Körper, die manchmal
bis zur extremen Fettleibigkeit getrieben sind, verweisen auf die
Gemäldeserien von Lucian Freud und klingen wie eine Hommage an die
Arbeit des Künstlers. Im Übrigen ist die Pose einiger Figuren leicht
erkennbar und verweist direkt auf Freuds Gemälde: "Naked man, back view" (1991-1992),
"Naked portrait with reflection"
(1980) oder noch "Benefits
Supervisor Sleeping II" (1995). Die Körper dieser Menschen
stehen hier für Gier, Habsucht, Durst nach Macht und Geld. Sie brauchen
mehr, immer mehr, denn nur das zählt, nur das haben sie im Kopf wie
besessen. Deshalb wirken sie auch so abwesend, völlig weltfremd. Selbst
wenn sie noch am Leben sind, ist ihre Menschlichkeit verloren gegangen.
Sie sind nur noch leere Hüllen, gefühllose und isolierte Wesen.
detailansicht: The Last Supper
detailansicht: The Last Supper
Durch wiederholte Exzesse hat die
Menschheit ihre eigene Existenz in die Zerstörung und ins Leid
getrieben. Dies ist in OtGOs Gemälden sehr deutlich zu sehen. Nur die
Menschen leiden unter der Situation. Die Affen hingegen schlemmen. Das
Vorhandensein von Gabeln, Tellern und Champagnergläsern macht deutlich,
dass diese für die Menschheit schreckliche Situation für die Tiere ein
wahrer Segen ist. Die Tentakel des Oktopusses werden zu Tischen und
nichts kann ihre gute Laune trüben. Sie heben ihre Gläser, als wollten
sie anstoßen, während sie die verängstigten und geschwächten Menschen
verspotten. Der von OtGO geschaffene Kontrast zwischen den beiden
Situationen ist erschütternd und bringt uns als Zuschauer dazu, der
Realität ins Auge zu sehen. So werden wir zu Zeugen unseres kollektiven
Selbstmords, denn unsere Augen haben die Leinwände gestreift. Einige
Zweibeiner, die wie Könige gekrönt sind, scheinen diese ganze kleine
Feier zu leiten. Wenn bei einigen der Kelch hochgeht, sehen andere
ihren Kopf fallen.
detailansicht: The Last Supper
Noch grausamer als die feiernden
Primaten sind die riesigen Gorillas, die diese Szene noch brutaler
machen, indem sie sie in einen Ort des Krieges und der Verwüstung
verwandeln: Größer als die anderen, mit übergroßen Genitalien und einem
Gewehr in der Hand, mustern sie die wenigen noch lebenden Menschen
aufmerksam. Das Aussehen der letzteren, die komplett nackt und ihrem
Schicksal überlassen sind, verweist uns auf die Schrecken, die die
Menschheit sich selbst und dem Tierleben im Laufe der Geschichte
zugefügt hat. Die Folterknechte, auf rotem Hintergrund mit
Heiligenschein über ihrem Kopf gemalt, scheinen ein heiliges Gewand
anzuziehen, während sie kriminelle Seelen bestrafen. Wie in Pierre de
Marivaux' Sklaveninsel (L’île des Esclaves) wurden die Herren zu
Sklaven und die Sklaven zu den neuen Herren. Anders als in Marivaux'
Buch ist jedoch keine Vergebung möglich. Die Triebe und die Gewalt
haben über die Vernunft und die Barmherzigkeit gesiegt.