Triptych: The Last Supper by OtGO 2020–2022 acryl on canvas 215 x 1000 cm
Last Supper -1 by OtGO 2020-2021, acryl on canvas, 212 x 300 cm | Last Supper -2 by OtGO 2020-2022, acryl on canvas, 212 x 400 cm | Last Supper -3 by OtGO 2020-2022, acryl on canvas, 212 x 300 cm
Triptych: The Last Supper by OtGO | Inside the Studio: Work in Progress | Photo by Anna Wyszomierska
Andrea Gamp
Konstanz – Berlin, Februar
2021
OtGO: The Secret
Matrix of Coronavirus – oder Konfetti in der Hölle?
--
The text in English --
2020
markiert einen Bruch. Es
ist das Katastrophenjahr, in dem das Coronavirus, SARS-CoV-2 weltweit
über die Menschen hereinbricht. Das Leben wie es bisher war, ist
hinweggefegt, das neue ähnelt einer Dystopie: Die Pandemie fordert
Millionen Tote und Erkrankte, überstrapaziert die Gesundheitssysteme
und befeuert die Wissenschaft in den Laboren. Eine neue Fratze der
Globalisierung zeigt sich. Politiker streiten sich, preschen voran,
wollen sich profilieren – letztlich fahren sie alle die Wirtschaft
gegen die Wand. Die Bevölkerung muss lernen, mit medizinischen Masken,
Kontaktsperren und massiven Beschränkungen zu leben, beruflich wie
privat. Hygienekonzepten ist Folge zu leisten. Lockdown und Kurzarbeit
bedeuten für die Menschen weniger Geld bei maximaler Flexibilität, oder
sogar den Arbeitsverlust. Kindergärten und Schulen sind zeitweise
geschlossen. Kulturelle Veranstaltungen entfallen, Museen, Theater und
Kinos werden abgesperrt. Sport findet höchstens im Freien und
vereinzelt statt. Die physische Trennung durch das Abstandsgebot,
selbst im engen Familien- und Freundeskreis, und die Ängste um
Gesundheit und Zukunft schlagen den Menschen auf die Seele. Talente wie
Kreativität und Nervenstärke sind gefordert. Und manch einer erkennt:
Entschleunigung und Konzentration auf Wesentliches können auch ein
enormer Gewinn sein! Andere, neue Vernetzungen müssen entstehen. Meist
dienen digitale Plattformen dazu, bisherige Gewohnheiten und
Kommunikationsformen des menschlichen Miteinanders zu ersetzen.
Hamsterkäufe bei Klopapier und Lebensmittelkonserven, geschlossene
Restaurants und Wildwuchs auf den Köpfen sind einige der Faktoren, die
im Alltag für Frustration sorgen. Flugzeuge bleiben am Boden, der
Urlaub ist gestrichen. Einzig Natur und Umwelt genießen ein wenig
Erholung von der ‚humanen Tyrannei‘!
The
Secret Matrix of Coronavirus by OtGO
2020, acryl
on
canvas 75 x 100 cm
Mit The Secret Matrix of Coronavirus
(2020) hat der Künstler OtGO
(* 1981) ein Bild geschaffen, das nicht nur in einem intensivierten
Arbeitsprozess die oben skizzierten Verhältnisse des einschneidenden
Jahres widerspiegelt. Das Coronavirus wird bereits explizit in Titel und Sujet thematisiert. Seine
Motivation für das Bild beschreibt der Künstler selbst folgendermaßen:
„Seit
einem Jahr ist Corona täglich präsent. Es gibt massenhaft Informationen
über Corona, die Zahlen verstorbener Menschen durch Corona und die
Probleme… Durch Corona entstanden Probleme. Das hat mich dazu gebracht,
dass ich das Bild malen musste“.
Es ist in der Tat eine ‚geheime Keimschicht des Coronavirus‘,
mit der sich die Menschen weltweit sowohl im wörtlichen, medizinischen
wie im übertragenen Sinne auseinandersetzen müssen – und zwar jeder
Einzelne! Das tun auf ihre spezifische Art auch die Figuren innerhalb
dieses Bildes, dessen Komposition
ein großer, bezeichnenderweise bekrönter Krake konstituiert (das Wort corona
bedeutet im Italienischen und Spanischen auch „Krone“).
Das Meerestier
mit den acht ausgreifenden Fangarmen, das hier ausgestreckt zum linken
Bildrand schwimmt, agiert so als Sinnbild für das grassierende Virus.
Zu den Eigenschaften der hochintelligenten Spezies der Kopffüßer zählt,
dass sie Farbe und Form verändern und durch Tarnung nahezu unsichtbar
für ihre Feinde werden. Direkt erkennbar im Bild wird das im Realraum
unsichtbare Übel Corona an den Viruspartikeln mit der
charakteristischen Proteinstruktur, die dem Betrachter gelb
entgegenleuchten.
„Es greift um
sich“, wie OTGO äußert. Beschwichtigend fügt er hinzu:
„Freiheit
und Glück haben daran teil. Die Ausgangssperre: Plötzlich ist die ganze
Welt still. Ethnologie. Das alles ist wichtig für das Bild. Die
Entschleunigung, die Stille zu leben ist für die Menschheit sehr
schmerzhaft und problematisch, aber für die Natur ist es das Gegenteil.
Sie erholt sich, und jetzt kommt der Winter, ein richtiger Winter.
Also, das ist dieser Gegensatz, den ich für das Bild deutlicher machen
möchte.“
Ungewöhnlich für OTGOs Œuvre ist das mittlere
Format von 75 x 100 cm, Acryl auf Leinwand. Es ist der ‚Vorbote‘
eines größeren Triptychons zum Thema Corona, Last Supper
(2020-2021, Acryl auf Leinwand, 215 x 300 cm, 215 x 400 cm, 215 x 300
cm), an dem der Künstler aktuell noch arbeitet. Außerdem unterhält The Secret Matrix of Coronavirus
auch ‚Wechselwirkungen‘ mit einigen Großformaten in Acryl aus demselben
Jahr, die an dieser Stelle lediglich erwähnt werden können: Kingdom of the Apes (Triptychon: 312
x 312 cm, 160
x 150 cm und 190
x 160 cm), am offensichtlichsten anhand der identischen, zentralen
Affenfiguren; oder aber Infinite –16
(2013-2020, 213 x 650 cm), welches allumfassendes
Sein im Sinne eines lamaistischen Buddhismus zelebriert.
Das Kolorit in The Secret Matrix of Coronavirus
ist eigentümlich, da es überwiegend alle ‚Feuerfarben‘ oder Wärme
assoziierenden Schattierungen von Rot-, Orange- und Gelbtönen,
durchsetzt mit Schwarz aufweist. Dies erstreckt sich einerseits auf den
mit Farbfließspuren gestalteten Bildgrund,
auf dem die Figuration
in Schichten entsteht. Die Farbgebung betrifft dann andererseits ebenso
die menschlichen und tierischen Figuren im Einzelnen. Sehr präsent im
Bild ist außerdem das Gelb, welches wie oben erwähnt, das Virus an
sich, aber auch das strukturell verwandte Krakenauge, Geld in Form von
Münzen und das Fell einzelner Zebras markiert.
Der große Schwarzanteil
wird den dominanten Affen zuteil, die Schimpansen ähneln und damit
Artverwandte des Menschen verkörpern. Ergänzend wirkt das Hellbraun als
Grundton für die Krakenhaut. Geringe Anteile der Primärfarben Blau,
Rot, Gelb ‚streuen‘ wie Konfetti in feinen Klecksen um die
Viruspartikel herum und liefern so eine Idee, das ‚Spreading‘
der Aerosole abzubilden.
Blau wird mit Weiß versetzt, um
Atemschutzmasken und Totenschädel zu kennzeichnen. Reinweiß ist den
Totenköpfen vorbehalten oder findet sich in hartem Kontrast zu Schwarz
in den Streifen der Zebras.
Der Farbauftrag wirkt bei
diesem Bild insgesamt opak, auch wenn Lasuren nachweisbar vorhanden
sind, sichtbar beispielsweise an den roten Affen ohne Konturlinien am
oberen Bildrand. Alle anderen Einzelfiguren bestehen im Allgemeinen aus
feinen, schwarzen Tuschekonturen, in die jeweils flächig Farbe
eingetragen wird. Auffallend bei The
Secret Matrix of Coronavirus
ist der differenzierte Malduktus, der die menschlichen Figuren
gegenüber den tierischen stärker abstrahiert. In ihrer Reduktion auf
nackte, haarlose Wesen mit weiblichen oder männlichen
Geschlechtsmerkmalen, die höchstens noch Gesichtsmasken tragen, wirken
sie wie aus einem Comicstrip entnommen.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Die Gesichter der Affen weisen
dagegen mehr Binnenstrukturen auf, ihre Mimik ist deutlicher
ausformuliert. ‚Neu‘ in der Linienführung sind auch die vielen kleinen
Kreise und Schraffuren für die Hautbeschaffenheit des Kraken sowie die
Wellenlinien für die Saugnäpfe.
OTGOs charakteristische Signatur,
der Daumenabdruck mit Schriftzug in senkrechter Schreibrichtung, findet
sich in der rechten unteren Bildecke. Zudem ist der gelbe Daumenabdruck
als ‚Identitätsmarker‘ mehrfach im Bildfeld präsent.
Hinsichtlich der Figuration ist
weiter zu sagen, dass das gesamte Bildfeld von menschlichen und
tierischen Figuren dicht ‚bevölkert‘ wird: ein Detailreichtum, der
bezeichnend ist für OTGOs Werke und in der Miniaturmalerei wurzelt. Die
Figuren verbleiben allesamt in der Fläche.
Dennoch entsteht im Bild durch die miteinander ‚verwobenen‘
Farbschichten ein Eindruck von Tiefe, von einem Farbraum im Bildfeld. Dabei bleibt
die Suche nach einer ‚klassischen Bildstruktur‘ von Vorder- Mittel- und
Hintergrund hier vergeblich.
Die Strukturierung fällt einer Figur zu, genauer gesagt dem großen
Kraken, der als ‚Konnexfigur‘ die Zonen des Bildfeldes
‚zusammenhält‘. Der Oktopode scheint aus dem Bildgrund heraus, inmitten
der Säugetiere (Primaten, Equiden) ‚aufzutauchen‘. Dabei ‚wirbeln‘
seine Tentakel in Schlangenlinienformen und Ringeln den Bildgrund auf,
um schließlich wieder darin ‚abzutauchen‘. Entsprechend der
Schwimmbewegung des Tieres, wird es auch im Bild wie in einem
Wasserstrudel von den Massen der weiteren Figuren ‚umspült‘.
Dennoch
bleibt aus einer Fernbetrachtung noch unklar, wie das eigentliche Bildgeschehen
zu deuten ist. Vielmehr erscheint es im Überblick als ein anarchisches,
absurdes Treiben voll ‚wuselnder Bewegungen‘ zwischen den
unterschiedlichen Figurengruppen (Affen, Menschen, Reiter). Das
Betrachterauge wird damit kontinuierlich herausgefordert, die einzelnen
Bildabschnitte ‚abzutasten‘, um sich Zusammenhänge sukzessive und
entgegen konventioneller Seherfahrungen zu erschließen.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Da
fällt es ausgehend von den Fangarmen des Kraken sofort auf, dass es die
schwarzen Affen und ihre Nachkommen sind, die allerhand ‚Schabernack‘
treiben! Ihre schier endlose Aufreihung entlang der Fangarme und ihre
Körperhaltungen, wie das ‚Auflegen‘ der Arme oder spielerische Gesten
unter Verwendung der Schädel, suggerieren ein Spektakel wie in
Theaterlogen oder bei Festbanketten. Ein Ereignis für Groß und Klein!
Jener oberste Tentakel, der weit nach vorne ausgreift, dient den Affen
als ‚Kletterbaum‘.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Und
auch das Virus, das dieser Spezies offenbar nichts anhaben kann,
‚wandert‘ daran entlang nach oben. Die eingerollten Fangarmspitzen
transformieren in ‚Schaukeln‘ für die Tiere. Offenbar tun die Affen im
Bild all jene Dinge mit ‚Spaßfaktor‘, die ihren Artverwandten, den
Menschen während der Pandemie aufgrund der Ansteckungsgefahr verwehrt
bleiben!
OtGO YouTube VIDEO
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Apropos Primatenfamilie – in The Secret Matrix of Coronavirus wird
klar, dass die Grenze zwischen Menschen und Affen aufgehoben ist, was
die Malerei unter anderem über die schwarzen, menschlichen Figuren am
oberen Bildrand realisiert. Die Affen werden geradezu
vermenschlicht
und als die vielfältigsten und aktivsten Figuren im Bild wiedergegeben.
So sind es die Affen, die verschmitzt und schelmenhaft aus dem Bild
herausschauen sowie innerbildlich über Blickbeziehungen untereinander
oder mit den Menschen interagieren. Letztere reagieren allerdings mit
erschrocken aufgerissenen, ins Leere starrenden, abgewandten oder gar
geschlossenen Augen. Selten richten sie den Blick über die ästhetische
Bildgrenze hinweg dem Betrachter entgegen. Im Bild zeigen sich keine
menschlichen Heiligen, sondern große Gruppen von Affen, die einen
Nimbus (Heiligenschein) tragen. Sie sind es aber auch, die
Geld
‚horten‘, Gewehre bei sich tragen und Gewalt ausüben! So gibt es eine
Bildstelle in der oberen Bildhälfte, in der Männer und Frauen von Affen
mit Waffen bedroht werden, als wollten diese sie hinrichten. Die Affen
im Bild belästigen und umklammern menschliche Leiber, verschleppen
Wehrlose.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Oft handelt es sich bei solchen
Opfern um weibliche Figuren,
wie zwischen den mittleren Fangarmen des Kraken mehrfach zu sehen ist.
Untereinander pflegen diese Primaten aber einen anderen Umgang:
Zuwendung wird bei einigen eng beieinander sitzenden Affenpaaren
greifbar, rechts oben im Bild.
Selbst soziale Hierarchien könnte
man
den gemalten Affen unterstellen. Unmittelbar unter dem Kopf des Kraken
gibt es vier bewaffnete, bekrönte Affenfiguren mit angedeuteten
Halsketten (‚Spreading‘-Partikel),
die zwar im Habitus von Monarchen mit Kronjuwelen auftreten, aber auch
Menschenfiguren drangsalieren.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Ist damit tatsächlich der
königliche
Status eines King Louie aus Walt Disneys The Jungle Book (1967) aufgerufen,
oder handelt es sich vielmehr um einen Verweis auf die negative
Situation durch Corona?
OTGO gibt eine umfassende Antwort:
"Es
gibt die Zerstörung der Natur durch den menschlichen Umgang, die
Verantwortung der Menschen gegenüber der Natur und das Karma.
Problematisch ist das menschliche Ego, der Mensch ist Alleinherrscher
über die Natur… Also für mich sind Menschen und Tiere nicht zwei
sondern eins. Jetzt ist es die Natur als Ganzes (ausgenommen die
Menschen), die menschliche Gier, Überbevölkerung und Macht bekämpft,
weil der Mensch nie zufrieden ist. Und das Geld ist von Menschen
geschaffen, Reichtum und Konsum sind hierbei wesentlich. Die Affen
symbolisieren den Ursprung des Menschen und sich selbst als Tiere, die
gegen die Menschen kämpfen, im Namen von allen anderen Tieren."
Des Weiteren gilt es für den
aufmerksamen Betrachter, Figurenüberlagerungen
und -kumulationen zu entdecken.
Figuren legen sich über Figuren und werden so selbst zur Basis für
weitere Figuration.
Am augenscheinlichsten ist dies an jenen beiden Stellen in der oberen
Bildhälfte, an denen sich bezeichnenderweise große Mengen an
Totenschädeln und Geldstücken derart über den Lebenden häufen, als
wollten sie diese ersticken. Das lässt etwa auf ein Massengrab und
Schuldenberge schließen – Gedanken, die angesichts der Pandemie und
ihrer fatalen Auswirkungen nicht verfehlt erscheinen. OTGO bringt es im
Künstlergespräch auf den Punkt:
"Dabei
spielt auch durch die Information das Geld in Zahlen eine große Rolle,
weil noch nie so viel Geld als Hilfe, als staatliche Unterstützung
angeboten wurde. Die Zahlen kann man nicht begreifen, es werden
Millionen, Milliarden, Billionen an Hilfe und Unterstützung
angeboten. Ob das Geld für die Menschen und die Natur wird Hilfe
leisten
können? Geld als Gier, Macht, Reichtum, als göttliche Macht, Konsum?"
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Unterschiedliche Schädelgrößen und
das Grinsen einiger Exemplare sind damit Vehikel eines
kritisch-ironischen Untertons.
Die Cineasten unter den Betrachtern werden in der Anhäufung und den in
der Malerei angedeuteten, ‚rollenden‘ Bewegungen der Schädel den ‚Pfad
der Toten‘ aus Peter Jacksons Trilogie The Lord of the Rings erkennen:
Jene Filmszene von The Return of the
King,
in der eine ‚Lawine‘ solcher Schädel beim Einstürzen der Höhle
niedergeht und die Helden unter sich zu begraben droht. Eine dritte
Stelle der ‚Figurenverdichtung‘, die Rhythmik in die Malschichten
bringt, ist die ‚Wolke‘ von unterschiedlich großen Viruspartikeln, die
sich über Mantel, Kiemen und Schnabel des Kraken schiebt. Folglich sind
die Elemente Virus, Tod und Geld im Bild wie im Leben schicksalhaft
miteinander verknüpft.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Aber auch Defiguration ist The Secret Matrix of Coronavirus
immanent: Schon der Bildausschnitt sorgt am oberen Bildrand für einige
angeschnittene Menschenhäupter. Kurios ist das Beispiel einer
männlichen Figur im Bildfeld, die zusammen mit einem Kind auf einem
Zebra reitet.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Dabei wäre das Reiten eines wilden
Zebras an sich schon
außergewöhnlich (da sich diese Spezies de facto der Zähmung
verweigert), kommt aber in der Logik des Bildes mehrfach vor. Man
findet den Reiter unmittelbar unterhalb einer Windung des obersten
Fangarmes des Kraken, der schlicht als Malschicht über den
‚Betroffenen‘ hinweg verläuft: Optisch wird der Reiter dadurch aber
nicht im Hintergrund verortet. Aus der Fläche betrachtet sieht es
vielmehr so aus, als sei ihm der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden und
er wolle nun ‚kopflos‘ einer aussichtslosen Lage entfliehen!
Am unteren Bildrand sind ausschließlich Affen von derartigen
‚Verstümmelungen‘ an den Füßen betroffen.
Die oben bereits erwähnten,
‚roten Affen‘ stellen ebenfalls einen figurativen ‚Zersetzungsprozess‘
dar. Durch ihre schemenhaft ausformulierten Körper, stechen die
konturierten, grauen Gesichter und Ohren umso mehr hervor – beinahe,
als würden die Körper transparent und vom gleichfarbigen Bildgrund
‚geschluckt‘ oder ‚zersetzt‘ werden! Man mag diese schelmischen Figuren
auf der Leinwand daher beinahe schon für ‚entfernte Verwandte‘ der
‚Grinsekatze‘ halten, aus dem famosen Kinderbuch Alice’s Adventures in Wonderland
des Briten Lewis Carroll (1865).
Schließlich
verdient auch die gesamte Reitergruppe
oberhalb des Krakenkopfes eine eingehende Betrachtung, da sie aufgrund
der Tierfiguren außergewöhnlich und zugleich für die Gesten der
menschlichen Figuren im Bild exemplarisch wirkt: Die Reittiere in
Seitenansicht formieren eine Herde aus Zebras und Pferden, die im
Galopp (siehe Schrittfolge) nach links, der Bildgrenze entgegen zu
preschen scheint.
Dabei
handelt es sich bei den Zebras um weiß- und
gelbgestreifte Figuren, die allesamt gesichtslos dargestellt sind.
Optisch sorgen die Überlagerungen ihrer Extremitäten sowie die
Streifenstrukturen für ein wildes Durcheinander. Die Pferde dagegen
verschmelzen auch farblich mit ihren nackten Reitern zu rotorangen
Figuren und weisen alle ausformulierte Augen, Nüstern, Mähnen und
Schweife auf. Die Körperhaltungen der Reiter sind ‚lose‘ und um die
Körperachse beweglich, sie reiten die Wildtiere frei, ohne jeden Zwang
von Sattel und Zaumzeug.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Farbgebung
und Darstellungsweise weisen sie
als Reiter asiatischer Prägung aus. Naheliegend, dass man angesichts
der engen Verbindung dieser Figuren mit ihren Tieren und der Reitweise
mongolische Reiter auf einem rasanten Ritt durch die Steppe vermutet.
Man möchte meinen, OTGOs Reiter hätten es im Kontext des Bildes ebenso
mit ‚Tod und Teufel‘ zu tun. Tatsächlich
sind sie aber in jeder
Hinsicht das extreme ‚Kontrastprogramm’ zu einer der bekanntesten
Reiterfiguren aus der westlichen Kunstgeschichte, dem Ritter in
Albrecht Dürers Kupferstich Ritter Tod und Teufel
(1513).
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Dürers
einzelner, technisch bedingt bis ins kleinste Detail
ausgearbeiteter Ritter strahlt Statik und Ruhe aus. Das Pferd verbleibt
in versammelter Haltung trabend, im vielteiligen Zaumzeug und unter dem
Sattel gebändigt. Sein Reiter wird zwar auch von der Seite nach links
reitend gezeigt, richtet den Blick aber konzentriert nach vorne und
verharrt in der Schwere des Körpermittelpunktes auf dem Pferderücken.
Bemerkenswert anders sitzen OTGOs Reiter auf ihren Reittieren, meist zu
zweit oder zu dritt, über die Figurengrößen oft als Vater, Mutter und
Kind identifizierbar. Präsent
ist auch hier das im Bild mehrfach
wiederkehrende Motiv von Müttern mit Kleinkindern auf dem Arm.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Einige
der Figuren tragen Atemschutzmasken, andere wenden ihre Körper nach
hinten ab, um den umherfliegenden Viruspartikeln zu entgehen. Ein
Reiter hält einen Totenkopf im Arm.
Die
reitenden Figuren
veranschaulichen, mit teilweise weit aufgerissenen, verdrehten oder
verschlossenen Augen sowie abwehrenden Handhaltungen, Angst und
Entsetzen. Andere menschliche Figuren im Bild tun es ihnen gleich.
Für jene anderen menschlichen Figuren
im Bildfeld abseits der Reitergruppe gilt, dass sie frontal, in
Seitenansicht sowie als Rückenfiguren alle möglichen Sitz-, Liege- und
Standpositionen einnehmen. Wiederholungen treten auf: Dreier-, Vierer-
und Fünfergruppen zwischen den Fangarmen des Kraken, deren
Einzelfiguren wie ‚gleichgeschaltet‘ Posen kopieren.
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Die
Figurengruppen
in der rechten, oberen Bildecke scheinen sogar mit ausgestreckten oder
hinter dem Kopf verschränkten Armen einzeln zu ‚tanzen‘. Vergleichbar
mit diesen ‚Tänzern‘ tritt neben dem untersten, eingerollten Tentakel
des Kraken auch eine einzelne, weibliche Figur in kämpferischer Pose
auf. Sie
ist umgeben von Geldstücken und Viruspartikeln. Die
ausgestreckte Faust und der zu einem Ausruf geformte Mund machen sie
beinahe zu einer auf die ‚Corona-Lage gemünzten Schwester‘ der
ukrainischen Femen-Demonstrantinnen.
In
einer Dreiergruppe aus
weiblichen Figuren mit geschlossenen Augen und unterschiedlichen Gesten
der Verzweiflung, zwischen den mittleren Tentakeln des Kraken verortet,
werden die drei Grazien parodiert:
Detailansicht: The
Secret Matrix of Coronavirus
Die
Erste hält sich den Kopf, presst
ihr Kind an sich und kann sich des Zugriffs eines übermütigen Affen
nicht erwehren. Die Zweite drückt sich halb gebeugt einen Totenschädel
gegen den Bauch und die Dritte wirft die Arme wie klagend in die Luft.
Ihre Hände finden nicht zu einer Berührung oder Umarmung zueinander,
die Trias zerfällt in Isolation und Vereinsamung. Jede Figur steht für
sich.
Am Ende sind es vielleicht
weitere Kontexte aus der westlichen Kunstgeschichte, die dem Betrachter
als Vergleichsbilder in den Sinn kommen. Beispielsweise neuzeitliche
Höllendarstellungen eines Hieronymus Bosch (um 1500/ 1510) oder Sandro
Botticellis Version von Dante Alighieris Inferno aus der Divina Commedia (1480/1490)– nicht
zuletzt über das Kolorit und die Torturen an den nackten Leibern. Die
Art der Darstellung in The Secret
Matrix of Coronavirus
erinnert zudem fern an landschaftliche Bildwelten, wie die
‚Wimmelbilder‘ von Pieter Brueghel (um 1560). Wo Brueghels
Figuren jedoch als Staffagen in ruralen Landschaften erscheinen können
und durchaus ‚Zwischenräume‘ für eine Abfolge von Narrationen im Bild
lassen, bilden OTGOs Figuren in einem ‚Strudel der Bewegung‘ ein
gleichzeitiges Miteinander auf engstem, undefinierbarem Raum ab. Trotz
der oben genannten, möglichen Referenzen wird spätestens nach diesem
knappen Abgleich abermals deutlich, dass der Maler OTGO eine originäre
Ikonografie entwirft. Die bietet dem Betrachter viel
Interpretationsspielraum – oder eben: Konfetti in der Hölle!
Was
vermag also eine Malerei nach der Postmoderne, in Pandemiezeiten
von Corona zu zeigen? Sicherlich Eines: Wer derzeit trotz aller
Widrigkeiten noch mit einem ironischen Zwinkern in die Welt schauen
kann, macht sich das (Über-) Leben leichter!
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